Unglück

 

 

 

 

 

 

 

Mist-Wecker, aber er weckt zuverlässig.

 

 

 

 

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 1 

Relevanz und Kernthesen

 

◙ Relevanz:

Neben dem kleinen bagatellartigen Leid, dem alltäglichen Ärger,

bilden die großen Schicksalsschläge

(z. B. Tod, schlimme Krankheit) eine eigenständige Kategorie.

Shit happens! Jeder mag versuchen,

daran vorbei zu kommen, aber keinem wird

dies lebenslänglich gelingen.

 

 

 

◙ Kernthesen:

 

A Lebenskünstler und Optimisten (alle 7er) wollen einfach

alles ins Positive wenden – das geht nicht.

Das große Leid lässt sich nicht schönreden.

Sodann: Es ist masochistisch und abstoßend,

dem Leiden Altäre zu bauen. Die Leidenszeit ist und

bleibt eine unglückliche, ja, beschissene Zeit.

 

B Dass man dem großen Leid dennoch Gutes

abgewinnen kann, zählt zu den irritierendsten Dingen.

Da es von fast allen großen Geistern bejaht wird,

befürchte ich, dass es stimmen könnte.

Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen.

(A. de Saint-Exupéry). Wohl bemerkt:

Es geht um unvermeidbares Leid, welches nach gelungener

Trauerarbeit aus der Rückschau gesehen wird.

 

C   Es ist klug, früh über das Leid nachzudenken,

da man während einer Krise wenig lernfähig ist.

Auch Lebenskünstler sind nicht gegen Leid gefeit,

aber sie gewinnen ihre Balance schneller wieder.

 

 

 

 

 

 2 

Unglück-Essay

K. P.

 

 

Ausweichen erlaubt

Auch wenn Leid als Reifungskatalysator gilt,

darf man ihm auszuweichen versuchen.

Leiden kann so grauenhaft sein, dass man gerne auf

Vollreife pfeift. Durch Schaden wird man klug, aber ich

bleibe lieber ohne Schaden dumm.

Und wenn Leid als Hauptstraße zur Transzendenz

empfohlen wird, so darf man ablehnen!

Als ob der Aufstieg aus kreatürlicher Dumpfheit nur

im Schatten des Kreuzes verlaufen müsse!

Auch wenn eine Spiritualität von unten (via Leid)

die mächtigeren Sprungbretter hat, so ist doch

langsameres Steigen vorzuziehen.

Auch wenn Leid das schnellste Pferd zu Gott ist (M. Eckart),

so ziehen wir den Esel vor. Selbst C. S. Lewis,

der in seinem Buch Über den Schmerz den Sinn des Leids

beängstigend hoch einschätzt, schreibt:

Wüsste ich nur irgendeinen Fluchtweg aus großem Leid,

ich würde durch Kloaken kriechen, ihn zu finden.

Kurz: Nur das unvermeidbare Leid ist anzunehmen!

Es gibt kein normales Leben – es gibt nur das Leben

und irgendwann erwischt es jeden. Das Kreuz als Symbol

des Leids ist ein Zeichen der Realität,

nicht weil der Mensch es braucht,

sondern weil er ihm nicht ausweichen kann.

Besser als Leidfreiheit anzustreben ist,

Leid bewältigen zu lernen, denn es kommt vor,

dass sämtliche Schutzengel im Urlaub sind.

Bitte nicht um eine leichte Bürde, bitte um einen

starken Rücken (T. Roosevelt).

Durchhänger sind normal:

Nur ein mittelmäßiger Mensch ist

immer in Hochform (W. S. Maugham).

 

 

Das Leid annehmen

Grundsätzlich: Leid ist ein Wecker. Ohne ihn neigt das

Leben eines Menschen dazu, oberflächlich dahinzuplätschern.

Das Auge des Leidenden ist für die Wahrheit immer am

meisten offen (J. H. Pestalozzi).

Mitten im Winter habe ich schließlich gelernt, dass es in mir

einen unbesiegbaren Sommer gibt (A. Camus).

Die Schärfe des Leidens liegt in der Unmöglichkeit

des Ausweichens. Der Weisheit macht der Mensch

nur Versprechen, dem Leid aber gehorcht er (M. Proust).

Man nehme also an! Unvermeidbares Leid

nicht anzunehmen bedeutet lebenslängliche Verbitterung.

Die Trauer wird zur Konserve – häufigstes Mittel: Alkohol.

Eine weitere wenig kluge Idee ist: Einfach verreisen –

man nimmt sich doch mit! Leidannahme ist zwar schmerzhafter,

aber in der Gesamtbilanz besser. Wenn man also dem Schicksal

nicht mehr ausweichen kann, soll man ihm entgegengehen.

Das Kreuz gefasst, ist halbe Last. Noch ein guter Grund

gegen Trauer-Abwehr: Wenn die seelische Hornhaut zu dick

wird, ist man auch für positive Gefühle unempfindlicher.

Wer nicht verletzbar ist, ist auch nicht begeisterungs-

und glücksfähig. No pain - no gain. Wer niemals heult,

lacht auch nicht besonders herzhaft.

Wer intensive Höhenflüge will, darf dem Schmerz

nicht ausweichen. Wer ihn nah an sich heran lässt

(aktive Trauerarbeit leistet), verwandelt sich:

Man wird gelassener und authentischer.

Lebensfreude und Glücksniveau sind danach höher –

Gott sei Dank, sonst hätte man gar nichts davon.

Gehabte Schmerzen, die hab´ ich gern (W. Busch).

Die Verfeinerung durch Leiden ist höher und

menschlicher als die durch Glück und Wohlleben (T. Mann).

Wenn die Trauer angemessen und echt ist,

will man sie gar nicht abschneiden. Die Erkenntnis,

dass Trauer richtig und authentisch ist, kann ein

paradoxes Gefühl auslösen: Man spürt Zustimmung

zu einem Gefühl, das für sich selbst subjektiv sehr

unangenehm ist. Der bekannte Nietzsche-Spruch:

Was mich nicht umhaut, macht mich stärker funktioniert

leider nicht bei jedem. Unter welchen Voraussetzungen

er wirkt, wird unter den Begriffen Resilienz und Kohärenz erforscht.

 

 

Phasen der Leidbewältigung

 Zuerst ist man wie geschockt. Man will es nicht

wahrhaben. Die anfängliche Traurigkeit ist wie ein

Fieber der Seele. Nachdem es einem das Herz brach,

zerbricht man sich in der

zweiten Phase auch noch den Kopf.

„Wieso Ich?“ Viele anfallsweise Weinkrämpfe.

Bei einigen, die vor Trauer kaum aus den Augen

gucken können, ist die zweite Phase so heftig,

dass sie für psychisch krank gehalten werden.

Das Gegenteil ist jedoch richtig: Den emotionalen

Mangel hat der, der vor Stumpfheit nicht trauern kann.

Es resultiert eine starre teilnahmslose Befindlichkeit,

die in enger Nachbarschaft zur Depression,

der stummen Trauer, liegt. Trauer braucht eine Stimme:

Das Fruchtwasser der Seele, die Tränen sind ein

sinnvolles Überlaufventil. Wer weint, bleibt flüssig,

also verholzt nicht. Seit Hiob ist die offene Revolte mit

Fluchen und Zürnen salonfähig. Trauer ist die einzige Art,

Trauer zu überwinden. Die Trauer hat die glückliche Fähigkeit,

sich selber aufzuzehren (S. Freud).

Große Trauer ist nie von Dauer (deutsches Sprichwort).

Das lässt den Schmerz nicht verschwinden,

aber zieht ihm den Giftstachel.

Wer auf sein Leid tritt, tritt höher (F. Hölderlin).

 

Die dritte Phase leitet die Wende ein:

Man fragt weniger warum, sondern wozu.

Jeder Kummer hat seinen Engel. Engel heißt Bote

oder Botschaft, es kommen nämlich Zeichen.

Dieser Perspektivenwechsel zum wozu wird als ungemein

fruchtbar angesehen. Bewährte Methoden der Suche:

vision quest und medicine walk.

 

In der vierten Phase der Ermutigung kommt die Quelle

des Lebens wieder zum Strömen. Der Sinn für Prioritäten

ist nun schärfer. Die Wellen kann man nicht anhalten,

aber man kann lernen, auf ihnen zu surfen.

 

A. Grün betont, dass es auch eine fünfte Phase geben kann,

wenn aus dem Leid langfristig besondere Fähigkeiten

erwachsen. Aus tiefen Wunden wachsen große Flügel.

Der Fachbegriff lautet „posttraumatisches Wachstum“.

Leid kann solidarisieren: Unglück hat mich gelehrt,

Unglücklichen Hilfe zu leisten (Vergil).

Kleinkram bringt die Menschen auseinander,

Katastrophen bringen sie zusammen. Trösten ist eine Kunst.

Wenn das Schicksal mit der großen Abrissbirne jemanden

heimsucht – wehe, man kommt dann mit Sprüchlein her wie:

Wenn dir das Wasser bis zum Hals steht, darfst du den Kopf

nicht hängen lassen! Solch ein Trost ist zynisch.

Großes Unglück gebietet Schweigen.

Der Tröstende soll nicht mitleiden, sondern mitfühlen.

Beim Mitleiden zöge er sich mit herunter, würde das

Gesamtleid vergrößern und wäre nicht in der

Verfassung, gut zu helfen.

 

 

Erkenntnisrest

Obwohl Unglück bei einigen größere Kräfte freisetzt als Glück,

bleibt Leid Skandal: Trotz der schönredenden Sprüche wie:

Keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt (H. Hesse),

ist Leid nicht wirklich bejahbar, sondern bleibt als

Grundphänomen abgrundtiefes Geheimnis.

Denn Vielen mutet das Leben mehr Leid zu,

als diese ertragen und ins Positive verwandeln können.

Sie verbittern und werden bitterböse.

Not weckt nicht bei allen das Beste, sondern die Bestie.

Das absurde und übergroße Leid mündet ins

Theodizee-Problem. Wir werden alle mal zu Hiob.

 

 

Theodizee

Das ist kein sechster Zeh, sondern der Begriff steht für

eine der heißesten Fragen der Geistesgeschichte:

Wie ist ein guter Gott mit großem Leid vereinbar?

Die Frage ist hochrelevant für die Lebenskunst,

da Glaube die m. E. mächtigste Hintergrundressource

werden kann. Tatsächlich bleibt das Leid der

Fels des Atheismus: Denn wie kann man an einen

guten Gott glauben, wenn er grausiges Leid zulässt?

Da das Thema den Rahmen dieses Menüpunktes sprengt,

bringe ich hier nur das Zentral-Argument vor: free-will-defence.

Wenn Gott im Leid eingreifen würde, was wäre dann?

Dann sähen wir, er ist da. Diese Evidenz seiner Existenz,

diese Allmacht würde uns erdrücken.

Wir wären Marionetten – total abhängig.

Gott will unsere Gegenliebe und diese taugt nur,

wenn sie frei ist. Deshalb muss er sich bedeckt halten.

D. h. er darf selbst bei großem Leid unschuldiger Opfer

(z. B. Naturkatastrophen) nicht eingreifen.

Er würde es vielleicht gerne wollen, aber unsere Freiheit

als Voraussetzung von Gegenliebe ist das höhere Gut.

Im großen Leid fällt man vom Glauben ab,

oder er wird stärker. Hiob fiel nicht ab,

aber beschwerte sich heftig. Am Ende „sah“ er Gott

und es ging ihm besser als vorher.

 

 

 

 

 

 3 

Schicksal

Eine asiatische Geschichte

Man weiß nie, wozu etwas gut ist!

 

Die Geschichte ist einfach: Es gab einmal in einem Dorf

einen alten Mann, der sehr arm war, aber trotzdem von

Königen beneidet wurde – denn er besaß ein

schönes weißes Pferd. Ein Pferd von solcher Qualität

war noch nie gesehen worden – solche Schönheit,

solcher Stolz, solche Stärke! Könige bewarben sich

um das Pferd und boten fabelhafte Preise, aber der

alte Mann kannte nur eine Antwort:

Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Mensch,

und wie kann man einen Menschen verkaufen?

Es ist ein Freund, es ist kein Besitz.

Soll ich meinen Freund verkaufen?

Nein, das kommt nicht in Frage.

Der Mann war arm und hatte allen Grund, der Versuchung

zu erliegen, aber er verkaufte das Pferd nie.

 

Eines Morgens entdeckte er plötzlich,

dass das Pferd nicht mehr im Stall war.

Das ganze Dorf versammelte sich und alle sagten:

Das hast du davon, alter Narr! Wir haben es vorher gewusst,

eines Tages musste das Pferd ja gestohlen werden!

Und wie kannst du bei deiner Armut einen solchen

Schatz richtig behüten? Du hättest wirklich besser

daran getan, das Pferd zu verkaufen.

Du hättest astronomische Summen dafür verlangen können,

jeden Phantasiepreis. Jetzt ist das Pferd weg.

Jetzt siehst du, was für ein Fluch, was für ein Unglück

es für dich war. Der alte Mann sagte:

Ihr müsst nicht übertreiben! Sagen wir einfach:

Das Pferd ist nicht im Stall. Das ist die einzige Tatsache;

alles andere ist Interpretation.

Ob es nun ein Unglück ist oder nicht, wie wollt ihr das wissen?

Wie könnt ihr das beurteilen? Die Leute sagten:

Uns kannst du nichts vormachen; wir mögen zwar

keine großen Philosophen sein, aber hier braucht man

auch keine Philosophie. Es ist eine klare Tatsache,

dass ein Schatz verloren gegangen ist, und das ist ein Unglück.

Der alte Mann erwiderte: Ich bleibe dabei; die einzige

Tatsache ist, dass der Stall leer und das Pferd fort ist.

Darüber hinaus weiß ich nichts, ob Unglück, Segen –

denn so ein Urteil ist begrenzt und niemand weiß,

was noch kommt. Er wurde ausgelacht.

Die Leute hielten den alten Mann für verrückt. S

ie hatten es schon immer gewusst. Er nicht ganz richtig

im Kopf war; sonst hätte er ja sein Pferd verkauft und

in Saus und Braus gelebt ... Stattdessen fristete er sein

Leben als Holzfäller. Obwohl er sehr alt war, fällte er

immer noch Bäume, brachte das Holz aus dem Wald

und verkaufte es. Er lebte von der Hand in den Mund,

hatte nur das Nötigste und nie wirklich genug.

Aber jetzt war ihnen endgültig klar, dass er verrückt war.

 

Nach vierzehn Tagen kam plötzlich eines Nachts

das Pferd zurück. Es war nicht gestohlen worden;

es war nur in die Wildnis gelaufen. Und es kam nicht nur zurück,

sondern brachte auch noch zwölf andere Wildpferde mit.

Und wieder kamen die Leute zusammen, und sagten:

Alter, du hast recht gehabt; wir haben uns geirrt.

Es war kein Unglück, sondern ein Segen. Es tut uns leid,

dass wir dir Vorwürfe gemacht haben.

Und der alte Mann sagte: Ihr geht schon wieder zu weit.

Könnt ihr nicht einfach sagen, dass das Pferd zurück ist

und dass es zwölf andere Pferde mitgebracht hat?

Warum urteilt ihr? Wer will denn wissen,

ob es ein Segen ist oder nicht? Es ist nur ein Bruchstück,

und wenn man den ganzen Zusammenhang nicht kennt,

wie kann man dann urteilen? Wie könnt ihr über ein

Buch urteilen, wenn ihr nur eine Seite gelesen habt.

Wie könnt ihr über eine ganze Seite urteilen,

wenn ihr nur einen Satz davon gelesen habt?

Wie könnt ihr über den Satz urteilen, wenn ihr nur

ein Wort davon gelesen habt? Und was ihr in der Hand haltet,

ist weniger als ein Wort – das Leben ist so unendlich.

Ihr habt nur das Bruchstück eines Wortes in der Hand

und habt über die ganze Welt geurteilt. Sagt also nicht,

dass dies ein Segen ist, denn wer weiß ...

Und ich bin völlig damit zufrieden, dass ich es nicht weiß.

Lasst mich also bitte in Ruhe.

 

Diesmal hielten die Leute den Mund.

Vielleicht hatte der alte Mann ja wieder recht.

Also sagten sie nichts, aber im Stillen wussten sie natürlich,

dass er sich irrte. Zwölf herrliche Pferde waren

mit dem einen Pferd zurückgekommen!

Wenn sie ein bisschen eingeritten wurden,

konnten sie bald alle verkauft werden und massenhaft

Geld einbringen. Der alte Mann hatte einen jungen Sohn –

es war sein einziger. Dieser Sohn begann nun,

die Wildpferde zu zähmen; eine Woche später stürzte er

von einem der Pferde und brach sich beide Beine.

Wieder kamen die Leute zusammen und urteilten wieder sofort.

Wie schnell ein Urteil feststeht! Sie sagten: Du hattest recht.

Was du geahnt hast, hat sich wieder einmal bestätigt.

Es war kein Segen, es war doch ein Unglück.

Dein einziger Sohn hat seine Beine verloren!

Wer soll jetzt die Stütze deiner alten Tage sein?

Jetzt bist du ärmer denn je. Der alte Mann sagte:

Könnt ihr denn nicht einmal aufhören mit eurem Urteil?

Ihr geht schon wieder zu weit ... sagt einfach, dass mein

Sohn seine Beine gebrochen hat. Keiner weiß, ob das nun ein

Unglück oder ein Glück ist. Keiner. Es ist wieder

nur ein Bruchstück, und wir bekommen nie mehr als

Bruchstücke zu sehen. Das Leben zeigt sich uns nur

in Fragmenten, aber unsere Urteile

fällen wir immer über das Ganze.

 

Ein paar Wochen später geschah es,

dass ein Krieg mit dem Nachbarland ausbrach,

und alle jungen Männer wurden zur Armee eingezogen.

Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück,

weil er ein Krüppel war. Die Leute kamen zusammen,

weinend und klagend, denn aus jedem Hause wurden

die jungen Männer mit Gewalt abgeholt. Und es

bestand keine Aussicht, dass sie je wiederkommen,

denn das Land, mit dem Krieg geführt wurde,

war ein sehr großes Land, und die Schlacht war von

vornherein verloren. Also würden sie nicht zurückkommen.

Das ganze Dorf weinte und klagte, und sie kamen

zu dem alten Mann und sagten: Wie recht du hattest, Alter!

Weiß Gott, wie recht du hattest – es war ein Segen:

Dein Sohn mag zwar ein Krüppel sein, aber wenigstens

bleibt er bei dir. Unsere Söhne werden wir nicht wiedersehen.

Er wenigsten lebt und ist bei dir und nach und nach wird

er schon wieder das Laufen lernen. Vielleicht wird er noch ein

bisschen humpeln, aber er wird wieder in Ordnung kommen.

Der alte Mann wehrte ab: Es ist einfach unmöglich,

mit euch Leuten zu reden.

Ihr könnt es einfach nicht sein lassen – ewig diese Urteile.

Niemand weiß etwas! Sagt doch nur, dass eure Söhne

in die Armee geholt worden sind, und mein Sohn nicht.

Aber ob das nun ein Segen ist, oder ein Unglück,

das weiß niemand. Kein Mensch wird das je wissen.

Nur Gott weiß es.

 

 (Bemerkung: Ein Mensch schaut in der Zeit zurück und sieht, sein Unglück war sein Glück (E. Roth).)

 

 

 

 

 

 4 

Brief einer studierenden Tochter an ihre Eltern

Autor unbekannt

smile

 

Liebe Eltern,

ihr müsst nun entschuldigen, dass ihr monatelang nichts mehr

von mir gehört habt, aber meine Kopfschmerzen fangen jetzt

an nachzulassen, so dass ich heute wieder schreiben kann.

Der Schädelbasisbruch ist praktisch wieder ganz verheilt.

Den habe ich mir zugezogen damals, als das College in

Flammen stand und ich aus dem zweiten Stock aus dem

Fenster springen musste. Aber ich habe ja viel Glück gehabt,

denn Gott sei Dank hat mich Jimmy damals gefunden und

sich rührend um mich gekümmert. Ja, von Jimmy wisst ihr

natürlich noch gar nichts, er arbeitete an der Tankstelle

vorne an der Straße, deshalb hat er mich auch gleich gefunden,

damals bei dem Brand. Er war sehr nett zu mir,

deswegen bin ich auch zu ihm gezogen.

Wir verstehen uns sehr gut. Natürlich – er hätte mir ja

schon etwas sagen sollen von dieser Krankheit, die er schon

lange hat und gegen die, wie die Ärzte sagen, man nichts

machen kann. Leider hätte ich diese Krankheit jetzt auch,

sagt der Arzt, was wegen des Babys nicht gut sei,

denn ich bin ja bereits im vierten Monat schwanger.

Aber wir sind trotz allem guten Mutes, und ihr müsst

Jimmy unbedingt kennenlernen. Ihr werdet ihn sofort

liebgewinnen, auch wenn er keinen Hauptschulabschluss

hat und seine Hautfarbe nicht die gleiche ist wie die unsere.

 

In Liebe eure Tochter

 

P.S.: Liebe Eltern, ich sollte euch doch noch sagen,

ich hatte keinen Schädelbruch, das College hat auch

nicht gebrannt, ich bin auch nicht schwanger und

Jimmy hat kein Aids. In Wahrheit gibt es gar keinen Jimmy

in meinem Leben. Ich habe aber in meinem Zeugnis

eine Fünf in Englisch und eine Sechs in Mathematik

und bin daher nicht versetzt worden – ich wollte nur,

dass ihr das alles in den richtigen Dimensionen seht.

 

 

(Bemerkung: Lebenskunst berücksichtigt die Hierarchie des Unglücks: Alles kann noch viel schlimmer kommen. Lebenskunst ist die Fähigkeit, sich trotz einiger Mangellagen eine gelassene Heiterkeit zu bewahren. Der Autor übt noch.)

 

 

 

 

 

 5 

Sprüche

 

Nie vergessen, dass Krisen total normal sind und wir sie daher einkalkulieren müssen!

 

◙ Unvermeidbares Leid: Der einzige Weg ‘raus ist mitten durch (F. Perls).

 

Per aspera ad astra (= durch die Dunkelheit zu den Sternen)

 

◙ Die Schwere drückt uns tiefer ins Leben (R. M. Rilke).

 

◙ Das Leiden macht den Menschen hellsichtig und die Welt durchsichtig (V. Frankl).

 

◙ Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht (W. Shakespeare).

 

◙ Traurigsein ist wohl etwas Natürliches. Es ist wohl ein Atemholen zur Freude, ein Vorbereiten der Seele dazu (Paula Modersohn-Becker).

 

◙ Hiob ist überall: Als Hexe verbrannt, als Sklave geschunden, in Auschwitz vergast, vom Erdbeben verschüttet, in der Anstalt dahindämmernd, vom Krebs zerfressen (B. Brantschen).

 

◙ Depression ist die Verlockung zu innerer Tiefe (K. Lange).

 

◙ Es ist das große Geheimnis der persönlichen Freiheit, dass Gott selbst davor halt macht (Edith Stein).

 

Wenn man zur Ruine wird, hat man freien Blick zum Himmel.

 

◙ Wenn alle Wege verstellt sind, bleibt nur der nach oben (F. Werfel).

 

◙ Wenn Gott zu Dir kommen will, verlässt er dich (K. H. Waggerl).

 

◙ Die Stunde unseres Scheiterns ist die Stunde der unerhörten Nähe Gottes und eben nicht der Ferne (D. Bonhoeffer).

 

◙ Im tiefen Tal der Tränen können aus manchen Wüsten Weiden werden (Volksmund).

 

◙ Segne Scherben, Risse, Brüche deiner Biographie, auf dass daraus Stärken wachsen. Nein, segnen ist mir zu masochistisch, darum bitten kann man. Nietzsche hat recht: Was uns nicht umhaut, macht uns stärker. (K. P.)

 

◙ Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. (Bibel: Röm. 8,18). Lasst uns hoffen!

 

◙ Aus dem Rhythmus von Weinen und Lachen gilt es, ein Lied zu machen.

 

Nettes Wortspiel, welches nur auf Französisch funktioniert:

Fortune et unfortune font une.

(= Glück und Unglück bewirken letztlich das Gleiche.)